Perspektiven für Afghanistan

Am 12. April 2010 haben die GRÜNEN ein Werkstattgespräch mit Kerstin Müller, Ralf Fücks und Arvid Bell veranstaltet. Diskutiert wurde das sehr kontroverse und spannende Thema "Perspektiven für Afghanistan".

13.04.10 –

Nach der Londoner Konferenz braucht Afghanistan eine realistische Abzugsperspektive und klare Maßstäbe für den zivilen Aufbau. Wie kann der von Karsai versprochene nationale Versöhnungsdialog gelingen? Und welche Unterstützung kann Deutschland und die internationale Politik bieten? Diese Fragen und mehr diskutierten am 12. April 2010 im Ehrenfelder Lokal "Die Zeit der Kirschen":

<link http: www.kerstin-mueller-mdb.de cms default rubrik>Kerstin Müller, Sprecherin für Außenpolitik der Grünen Bundestagsfraktion
<link http: www.boell.de stiftung struktur-2223.html>Ralf Fücks, Vorstand der <link http: www.boell.de>Heinrich-Böll-Stiftung
<link http: www.gruene-jugend.de _node personen bell.html>Arvid Bell, Mitglied im Bundesparteirat

Sven Lehmann (Landesvorstand) moderierte die Veranstaltung, die über 30 Besucher hatte.

Ralf Fücks betonte dabei die Fortschritte, die man in Afghanistan bereits erreicht habe. 40 % der mittlerweile 6 Mio. Schulkinder seien Mädchen. Ein Zustand, der in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban undenkbar gewesen wäre. Fücks betonte, dass es in Afghanistan nun nicht mehr um das Ziel einen „Siegfrieden“ zu schaffen, gehe, sondern vielmehr darum, den „Verhandlungsfrieden“ zu erreichen, welcher die Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit Afghanistans gewährleistet, einen Rückfall in einen Bürgerkrieg zu verhindern und vor allem die Taliban von der Herrschaft ausschließen solle. Afghanistan müsse soweit stabilisiert werden, dass den Afghanen nach und nach die Sicherheit der einzelnen Gebiete zurück übergeben werden könne. Als Zukunftsperspektive für Afghanistan nennt Fücks Indien als Beispiel. Anstrebenswert sei keine zentralistischehe Staatsführung, sondern vielmehr ein föderales System, welches auf verfassungsmäßig garantierten Kompetenzen und Ressourcen aufbaue.

Arvid Bell hingegen, selbst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Friedens- und Konfliktforschung und als Experte für Statebuilding tätig, befürchtet durch die Truppenaufstockung der Länder, die in Afghanistan intervenieren, eine sich immer schärfer nach oben schraubende Gewaltspirale. Er stellt die Frage, was das für einen Staat bedeutet, wenn nur die Sicherheitskräfte eines Landes funktionieren, die Institutionen jedoch nicht neu strukturiert und demokratisiert werden.

Kerstin Müller betonte dass man nicht einfach „jetzt“ aus Afghanistan abziehen könne, man eine Verantwortung trage für die AfghanInnen, die weiter die Hilfe benötigen. Man benötige mehr Schutz durch Bodentruppen, keine weiteren Angriffe durch die Luft mehr. Es gehe eben nicht darum, die Bodentruppen flächendeckend auszuweiten, sondern die bereits vorhandenen Sicherheitsinseln zu stärken. Natürlich wolle man die Demokratisierung innenpolitisch voran treiben, jedoch nicht mehr mit dem ersten Ziel "statebuilding", sondern mit dem Ziel, einen Verhandlungsfrieden zu schaffen, der die von Ralf Fücks bereits erwähnten Punkte beinhalte.

Text: Celestine Hassenfratz                           Fotos: Christiane Martin

 

Hier einige ausführliche Hintergrundinforamtionen zusammengestellt von Vorstandsmitglied Katja Trompeter:

Als Hintergrund für die Veranstaltung von Bündnis 90 / Die Grünen Kreisverband Köln werden im Folgenden die wesentlichen Äußerungen und Initiativen von Bündnis 90 / Die Grünen auf Bundesebene zusammengefasst dargestellt.

Weitere Informationen findet Ihr beispielsweise unter (Auswahl, letzter Seitenaufruf: jeweils 07.03.2010):

  1. Bundespartei

Erklärung des Parteivorstandes zur Aufbau- und Abzugsperspektive für Afghanistan (Herbst 2009)1

Die Erklärung betont die Verantwortung zu Afghanistan und stellt dabei den zivilen Wiederaufbau sowie den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt. Es wird ausdrücklich betont, dass eine militärische Lösung des Konflikts nicht möglich ist. Im Rückblick wird die bisherige Strategie der Großen Koalition falsch kritisiert, weil sie in ihrer Schwerpunktsetzung weder zielführend noch erfolgreich war. Für Bündnis 90 / Die Grünen stehen dagegen die Elemente Polizeiaufbau, ziviles Engagement und Wiederaufbau sowie eine deutlich verbesserte Informationspolitik hinsichtlich der deutschen Afghanistanstrategie an vorderster Stelle.

Entgegen anderer Forderungen aus der Opposition – namentlich bei der Linken – lehnt die Erklärung jedoch einen sofortigen Abzug ab, um eine Eskalation der Gewalt in Afghanistan und eine drohende Destabilisierung Pakistans zu vermeiden. Ziel ist es, in der Legislaturperiode 2009-13 eine doppelte Strategie von zivilem Wiederaufbau und militärischem Abzug auf den Weg zu bringen.

Konkrete Forderungen sind:

  • Keine Militäraktionen außerhalb von ISAF. Oberste Priorität ist es, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Es gilt, Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Humanitären Völkerrechts unbedingt einzuhalten.

  • Nach dem Grundsatz „Zivil vor Militär“ werden Schwerpunkte des Wiederaufbaus vor allem auf die Bereiche Bildung, Landwirtschaft und Infrastruktur gelegt.

  • Konkret sollen im Rahmen des Polizeiaufbaus 500 zusätzliche Ausbilder durch Deutschland gestellt werden.

  • Forderung nach einer stärkeren afghanische Eigenverantwortung – v. a. die Zusammenarbeit mit oppositionellen friedensbereiten Kräften soll gestärkt werden.

  • Die Einsetzung einer überparteilichen Kommission zur Evaluierung und Bilanzierung des Afghanistaneinsatzes wird gefordert. Darüber soll ein ziviler Aufbauplan mit konkreten, überprüfbaren Zwischenzielen erarbeitet werden, wovon eine militärische Abzugsperspektive abhängig gemacht werden kann.

  • Initiierung eines regionales Friedens- und Stabilitätsabkommen unter Einbezug aller Nachbarstasten.

  1. Bundestagsfraktion

Anfragen:

Eine „Kleine Anfrage“ der Grünen Bundestagsfraktion vom 15.02.20102 – noch nicht beantwortet – befasst sich mit „Wiederaufbau und Entwicklung im deutschen Afghanistan-Konzept der Bundesregierung nach der Londoner Konferenz“.

Hintergrund: Die Bundesregierung hat die sowohl Erhöhung der finanziellen Mittel für den zivilen Wiederaufbau angekündigt als auch eine „Entwicklungsoffensive“ für Nord-Afghanistan. Die „Kleine Anfrage“ fragt dazu nach der konkreten Umsetzung, die daraus folgenden Wegmarken und die erwartete Wirksamkeit der Maßnahmen.

Eine weitere „Kleine Anfrage“, ebenfalls vom 15.02.20103 und noch ohne Antwort, befasst sich mit der konkreten Umsetzung des Afghanistan-Konzepts der Bundesregierung in den Bereichen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramm. Dabei geht es vor allem um die Unterstützung eines innerafghanischen Versöhnungsprozesses durch die internationale Gemeinschaft, in deren Mittelpunkt eine Initiative Hamid Karzais zur Einberufung einer „Great Peace Jirga“ sowie direkten Verhandlungen mit verschiedenen aufständischen Gruppen, u. a. den Taliban.

Hintergrund: Die Bundesregierung will diese Initiative durch die Mitfanzierung eines „Fonds zur Reintegration“ unterstützen.

Entschließungsantrag:

Im Vorfeld der Bundestagsabstimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandats hat die Bundestagsfraktion am 24.02.2010 einen Entschließungsantrag zur „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“4 vorgelegt. Der Antrag wurde in der Bundestagssitzung am 26.02.2010 schließlich abgelehnt.

Auch die Bundestagsfraktion der Grünen betont die Verantwortung Deutschlands im Rahmen der ISAF-Mission, sieht aber eine Verschlechterung der Sicherheitslage und befürchtet Rückschläge beim zivilen Wiederaufbau. Der neue Ansatz der Bundesregierung, die damit wiederholte Forderungen der Grünen umsetzt, sieht eine Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit vor sowie die Verständigung auf eine Abzugsperspektive der Bundeswehr. Der ambitionierte Fünf-Jahres-Plan der „Londoner Konferenz“ mit dem Ziel, eine selbsttragende Sicherheit und funktionsfähige staatliche Strukturen zu erreichen sowie der geplante Bundeswehrabzug ab 2011 bedürfen einer umfassenden Planung. Diese Planung und die Etablierung konkreter Zwischenziele im Hinblick auf die Umsetzung von werden nun von Grüner Seite eingefordert. Dabei sind Bevölkerung und Zivilgesellschaft stärker einzubinden als bisher uns insbesondere die (Beteiligungs-) Rechte der Frauen und Mädchen zu stärken.

Die wichtigsten Schritte und Forderungen der Grünen sind:

  • Unterstützung einer politischen Verhandlungslösung über den Reintegrationsfonds und unter Einhaltung der Menschenrechte. Dabei sollte eine Zusammenarbeit mit Al Qaida oder den Taliban – sofern bei letzteren eine Anerkennung der Verfassung und z. B. der Frauenrechte nicht erfolgt ist – ausgeschlossen sein;

  • Beendigung der „Operation Enduring Freedom“ sowie Betonung des ISAF-Mandats als Stabilitäts- und nicht Aufstandsbekämpfungsauftrag. Oberste Priorität muss dem Schutz der Zivilbevölkerung eingeräumt werden;

  • Ausbau des bisher vernachlässigten Polizeiaufbaus und verstärkte Ausbildung der afghanischen Armee;

  • Unabhängige Evaluierung und Wirksamkeitsanalyse des bisherigen deutschen Engagements vor dem Hintergrund der aktuellen Situation, insbesondere

    • „Partnering“ mit afghanischen Sicherheitskräften näher definieren und konzeptualisieren,

    • Zivilen Aufbauplan vorlegen,

    • Förderkriterien für den Reintegrationsfonds definieren;

Zeitschiene: Erste Ansätze und Konzepte sollten bis zur „Konferenz von Kabul“ Mitte April 2010 vorgelegt werden.

  • Keine Erhöhung des Bundeswehrkontingents vor dem Hintergrund, dass die militärische Strategie und der künftige Charakter des Bundeswehreinsatzes nicht klar sind. Statt dessen wird eine Umschichtung im bestehenden Kontingent angestrebt und ein Abzug der als ineffektiv und zu teuer angesehenen RECCE-Tornados;

  • Unverzügliche Einstellung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in den Haushalt. Die Unabhängigkeit der Hilfsorganisationen muss in der Umsetzung gewahrt werden und die Vergabe der Mittel darf nicht an bestimmte Bedingungen hinsichtlich der militärisch-zivilen Zusammenarbeit geknüpft werden.

Die neue Verknüpfung von zivilem Aufbau und militärischer Seite, wie durch das Entwicklungsministerium (BMZ) in letzter Zeit gefordert, wird von den Grünen strikt abgelehnt. Es wird betont, dass eine Vermischung von humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und militärischem Einsatz sowie die Ausrichtung von Entwicklungszusammenarbeit an militärischen Prioritäten eindeutig kontraproduktiv sind.

Im Übrigen werden von den Grünen massive Zweifel an einem „defensiveren“ Ansatz der Bundeswehr geäußert, vor dem Hintergrund einer geografischen und quantitativen Ausdehnung der militärischen Präsenz. Hinsichtlich der Dualität einer militärischen und politischen Logik des neuen strategischen Ansatzes werden erhebliche Widersprüche diagnostiziert und eine Eskalation der Gewalt befürchtet, falls auf militärischer Seite keine Zurückhaltung geübt wird.

Bundestagsdebatte:

Der Bundestag hat auf seiner Sitzung vom 26.02.2010 unter Tagesordnungspunkt 18 die „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen“5 behandelt.

Der zentrale Redebeitrag der Grünen schloss an die Einschätzungen und Forderungen des o. g. Entschließungsantrags an. Renate Künast betonte in ihrer Rede noch einmal den Mangel an Führung und Systematik im Vorgehen der Bundesregierung und bezeichnete den Kurs als „mindestens ambivalent“. Insbesondere auch hinsichtlich der geplanten zusätzlichen Mittel in Höhe von 430 Mio. EUR wurde ein Konzept zur Mittelverwendung angemahnt, das eine ernsthafte strukturelle und personelle Vorsorge hinsichtlich der Mittelverwendung und der Koordination des Einsatzes erkennen lässt.

Darüber hinaus wies Renate Künast auf die allgemeine konzeptionelle Schwäche der Bundesregierung zum Thema Afghanistan hin – statt des Ansatzes des BMZ einer „vernetzten Sicherheit“ fehle ein Konzept zur Zusammenarbeit von BMZ und Auswärtigem Amt, ein Entwurf eines Rückkehrerprogramms und die Entwicklung einer regionalen Sicherheitsstrategie für den gesamten Raum, auch unter Einbezug des UN-Sicherheitsrats. Sie kritisierte außerdem die immer noch offenen Fragen zur Selbstverpflichtung der afghanischen Partner bei Wiederaufbau und Versöhnung – insbesondere auch was einen Respekt gegenüber den universellen Menschenrechten im Allgemeinen und den Frauenrechten im Speziellen angeht.

Aufgrund dieser Kritik an der bisherigen Praxis und zukünftigen Strategien – und nicht aus einer postulierten mangelnden Verantwortung – kündigte Renate Künast an, dass es der Grünen Bundestagsfraktion mehrheitlich nicht möglich sei, einer Aufstockung zuzustimmen. Weil auch die im Rahmen der Bundestagsdebatte vorgelegten Ansätze und Argumente insgesamt nicht überzeugend für die Grünen sind, bezeichnete Renate Künast die Debatte faktisch als eine „Truppenstellerkonferenz“ – was die Bundesregierung im Hinblick auf die Londoner Konferenz noch kritisiert habe.



Abstimmungsergebnis: Ja – 8 Stimmen, Nein – 21 Stimmen, Enthaltungen – 35 Stimmen, Nicht abgegeben – 4 Stimmen.
Katja Trompeter, 11.03.2010

1 <link http: www.gruene-partei.de cms files dokbin>

www.gruene-partei.de/cms/files/dokbin/303/303089.flugblatt_afghanistan.pdf

[Letzter Aufruf: 07.03.2010].

2 <link http: dipbt.bundestag.de:80 dip21 btd>

dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/007/1700725.pdf

[Letzter Aufruf: 07.03.2010].

3 <link http: dipbt.bundestag.de:80 dip21 btd>

dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/007/1700726.pdf

[Letzter Aufruf: 07.03.2010].

4 <link http: dipbt.bundestag.de:80 dip21 btd>

dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/008/1700818.pdf

[Letzter Aufruf: 07.03.2010].

5 <link http: dip21.bundestag.de dip21 btp>

dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17025.pdf

[Letzter Aufruf: 11.03.2010].

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